Jahrespressemeldung 2023

Kfz-Gewerbe Hessen resümiert: Ein „turbulentes Autojahr“ 2022

Kfz-Gewerbe steht vor einer Gratwanderung – Viele Fragezeichen in Handel und Service – Kleines Plus bei den Neuzulassungen – Besitzumschreibungen zweistellig im Minus – Hohe Umsätze durch gestiegene Preise – Umsatzrendite mit neuer Bestmarke – Nutzfahrzeuge mit Verlusten – Elektromobilität: Hochlauf vorerst gestoppt – Starke Werkstattauslastung – Gute Ausbildungsbilanz – Hersteller gefährden Handel mit neuen Vertriebsmodellen – Perspektiven „mit Vorbehalt“


Wiesbaden/Frankfurt, 20.03.2023. Das hessische Kraftfahrzeuggewerbe hat das krisenbelastete Autojahr 2022 überraschend stabil überstanden. Mit einem kleinen Plus bei den Pkw-Neuzulassungen, einem starken Hochlauf der Elektromobilität, einer zukunftsweisenden Ausbildungsbilanz und vor allem mit einer auf 3,1 Prozent gestiegenen Umsatzrendite vor Steuern sieht die automobile Welt vorübergehend zuversichtlicher aus. Jürgen Karpinski, Präsident des Kfz-Landesverbandes Hessen und des Zentralverbandes, sagte, das Autojahr 2022 habe „endlich schwarze Zahlen gebracht“, eine automobile Normalität sei aber nicht in Sicht. Quantitativ sei 2022 ein schwaches Autojahr gewesen. Die Branche stelle sich auf eine Gratwanderung in den nächsten Jahren ein, denn der Automobilmarkt werde neu aufgeteilt.


Der Markt in Hessen, so Karpinski, habe mit dem Verkauf neuer und gebrauchter Pkw und Lkw sowie dem Service 25,7 (Vorjahr: 22,5) Milliarden Euro umgesetzt. In Hessen seien 719.110 (Vorjahr: 795.160) Pkw-Käufe bilanziert worden, davon 279.749 (Vorjahr: 276.989) Neuzulassungen. Diese Marktzahl zeige einen Verlust von rund 80.000 Pkw im Vergleich zum Jahr 2021. Gegenüber dem letzten krisenfreien Jahr 2019 fehlten in der Bilanz über 200.000 Fahrzeuge, davon allein 110.000 Neuwagen. Ein Verlierer des Autojahres 2022 sei der gebrauchte Pkw.


Die Branche mit ihren 4.300 Betrieben in Hessen sehe viele Fragezeichen in Handel und Service. In einem instabilen Umfeld werde es starke Veränderungen der automobilen Handelslandschaft geben. Mit Agenturmodellen rüttelten die Hersteller am Fundament des klassischen Automobilvertriebs zu Lasten des stationären Handels. Die geplanten Zugriffe der Hersteller reichten bis in das Gebrauchtwagengeschäft und den Kundendienst. Hersteller versuchten mit einem „fragwürdigen Datenzugriff“ im Service in eine weitere Domäne des Kfz-Gewerbes zu gelangen.


Für die Elektromobilität hätten die Stunden der Wahrheit begonnen, denn der stark gekürzte staatliche Umweltbonus sei ein „Abschied dreistelliger Zuwachsraten“. Damit gerate auch das Ziel der Mobilitätswende in Gefahr. Noch in diesem Jahr werde die Innovationsprämie für gewerbliche Fahrzeuge gestrichen. Wörtlich sagte Karpinski: „Mit der bisher gekannten Dynamik sollte es vorbei sein“. Die Politik müsse reagieren und das System der Förderung neugestalten.


Bereits im letzten Quartal des Vorjahres sei die private Nachfrage nach neuen Pkw spürbar gesunken. Sie betrage ein Drittel. Dieser Trend habe sich zum Jahresstart fortgesetzt. Die Branche fürchte, dass für eine große Kundengruppe die individuelle Mobilität mit neuen Pkw nicht mehr
finanzierbar sei. Dies gelte im Besonderen für E-Fahrzeuge. Handel und Verbraucher wünschten sich „bezahlbare Fahrzeuge in der Preisklasse zwischen 20.000 und 30.000 Euro“. Ob neue chinesische Anbieter diese Lücke füllen könnten, müsse abgewartet werden.


Mit Blick auf die aktuelle Debatte zur Nutzung synthetischer Kraftstoffe betonte Karpinski, wer einen klimafreundlichen Verkehr auf der Straße wolle, könne den vorhandenen Fahrzeugbestand nicht „links liegen lassen“. In Hessen seien 93 Prozent aller motorisierten Fahrzeuge mit einem Verbrennungsmotor ausgerüstet. E-Fahrzeuge, reine batteriebetriebene Fahrzeuge und Plug-in-Hybride hielten 3,5 Prozent im Bestand. Viel wichtiger als das Aufstellen eines Verbotsschildes seien tatsächlich Luft verbessernde Maßnahmen in den Städten. Dazu zähle auch die Nutzung von E-Fuels.


Nutzfahrzeugmarkt mit Licht und Schatten
Im hessischen Nutzfahrzeugmarkt zeigt sich das gleiche Bild wie bei den Pkw: Neuzulassungen top und Besitzumschreibungen flopp. In Zahlen ausgedrückt sind 41.937 Transporter, also leichte Nutzfahrzeuge mit zulässigen Gesamtgewichten von bis zu 6 Tonnen neu zugelassen worden. Das entspricht einer Steigerung von 12,5 Prozent gegenüber dem Jahr 2021 (37.262). Bei den gebrauchten Transportern sind 47.599 Besitzumschreibungen erfolgt und damit 4 Prozent weniger als im Vorjahr (49.582). Bei den neuen Lkw wurden 4.373 Fahrzeuge (Vorjahr: 4.080) zugelassen. Das entspricht einem Plus von 7,2 Prozent. Bei den gebrauchten Lkw stehen 4.412 Besitzumschreibungen zu Buche (Vorjahr: 4.856). Das entspricht einem Rückgang von 9,1 Prozent.


Anhaltende Lieferengpässe bei Halbleitern haben auch die Nutzfahrzeuge-Produktion wieder stark betroffen. Michael Kraft, Vizepräsident des Kfz-Landesverbandes Hessen, sagte zu den Zulassungszahlen: „Wir können mit den Neuzulassungen zufrieden sein, hätten uns aber mehr Ware gewünscht. Die Kunden mussten ihre Fahrzeuge länger fahren, was weniger Besitzumschreibungen bedeutet.“


Mit Blick auf die Pläne der EU erklärte Kraft, die europäische Kommission habe Mitte Februar ihren Entwurf für die Weiterentwicklung der CO2-Regulierung für schwere Nutzfahrzeuge vorgelegt. Demnach sollen die CO2-Reduzierungsziele für Lkw, die bis 2030 zu erreichen sind, deutlich angehoben werden. Außerdem will die Kommission eine Reduzierung der CO2-Emissionen von neuen Lkw bis 2040 um 90 Prozent durchsetzen.


Die Kommission, so Kraft, schieße über das Ziel hinaus. Sie setze überehrgeizige Ziele für Null-Emissions-Lkw, bevor auch nur annähernd klar sei, ob die notwendigen Grundlagen für deren Verbreitung in Europa entstehen können. Gerade die so wichtige Tank- und Ladeinfrastruktur für emissionsfreie schwere Nutzfahrzeuge stecke in den Kinderschuhen. Vernünftiger wäre es daher, sich in den kommenden Jahren auf die unmittelbaren Herausforderungen zu konzentrieren und Flottenziele für die 2030er Jahre erst später festzulegen.

Auto-Preise kräftig gestiegen
In seinem Rückblick auf „ein turbulentes Autojahr“ sagte Karpinski, der Automobilmarkt sei von steigenden Preisen geprägt gewesen. Der neue durchschnittliche Preis von 43.110 (Vorjahr: 37.940) Euro für einen neuen Pkw resultierte aus dem stark gestiegenen Anteil der E-Fahrzeuge und durch erneute Verschiebungen in den Marktsegmenten, höhere Einkaufspreise und niedrigere Nachlässe. Der Trend zum neuen SUV sei ungebrochen. 41,9 Prozent der Neuzulassungen seien kleine, kompakte und große SUV, eine Steigerung um 12,6 Prozent. Auch das Luxus-Segment habe um 13,5 Prozent zugelegt. Im Gegensatz dazu habe es weniger Minis, Kleinwagen und Kompakte gegeben.


Der neue durchschnittliche Preis für einen gebrauchten Pkw in Höhe von 19.130 (Vorjahr: 15.810) Euro sei das Ergebnis der Mangellage. Wenn eine hohe Nachfrage auf ein knappes Angebot treffe, seien nach dem Einmaleins der Marktwirtschaft steigende Preise die Folge. Kräftig habe der Privatmarkt an dieser Preisschraube gedreht. Hier habe es einen Preisschub um 39 Prozent auf 13.990 (Vorjahr: 10.010) Euro gegeben, im Markenhandel sei der durchschnittliche Preis um zehn Prozent auf 23.640 (Vorjahr: 21.250) Euro gestiegen und der freie Markt habe 18.370 (Vorjahr: 14.470) Euro gemeldet. Dies bedeute einen Preissprung von 27 Prozent.


Auffällig sei die Finanzierung dieser hohen Auto-Preise, denn offensichtlich habe der Privatkunde in der Corona-Zeit Geld ansparen können. Der Eigenanteil bei der Neuwagen-Finanzierung sei um 55 Prozent auf 12.400 Euro gestiegen, die Kredithöhe hingegen um etwa 17 Prozent auf 14.500 Euro gesunken. Für Hessen seien beim Neuwagenkauf eine Kreditsumme von 600 Millionen Euro, beim Gebrauchtwagenkauf von 1,4 Milliarden Euro entstanden.


Auf der Habenseite der Bilanz: Service
Einen überraschend großen Umsatzanstieg habe der Service im vergangenen Jahr verzeichnet. Um 192,8 Millionen Euro sei der Umsatz auf 2,01 Milliarden Euro gestiegen. Dies habe trotz einer gesunkenen Jahresfahrleistung nicht überrascht, denn das hohe Pkw-Alter in Hessen mit 9,9 (Vorjahr: 9,7) Jahren habe das Werkstatt-Geschäft belebt. Das Servicegeschäft habe sich nach Jahren der Einbußen nicht nur erholt, sondern sei auf das Niveau der krisenfreien Jahre bis 2019 gestiegen.


10,6 Prozent plus beim Umsatz sei eine „unerwartete Marktgröße“. Auch der Jahresstart 2023 liege mit einer Werkstattauslastung von 84 Prozent über dem Vorjahr. Die Service-Bilanz 2022 weise eine um fünf Prozentpunkte auf durchschnittlich 85 Prozent gestiegene Werkstattauslastung aus. Die Kosten für Wartung und Reparatur seien leicht gestiegen, kräftige Steigerungen habe es im Geschäft der Unfallreparatur gegeben. Ein Grund für diese Entwicklung seien die hochpreisigen Schäden, deren Anteil von 11 auf 17 Prozent gewachsen sei. Karpinski verwies in diesem Zusammenhang auf „immer aufwändigere Scheinwerfersysteme“, deren Reparatur hohe Kosten verursache.


Wer bekommt die Fahrzeugdaten?
„Wir brauchen eine sektorspezifische Regelung für die Fahrzeugdaten,“ forderte Karpinski mit dem Hinweis, dass es auf europäischer Ebene noch in diesem Jahr eine Regulierung geben müsse. Die Branche benötige diese Fahrzeugdaten in den markengebundenen ebenso wie in den freien Betrieben. In Brüssel müsse den Herstellern ein Riegel vorgeschoben werden, denn sie versuchten die Daten und deren Gebrauch zu monopolisieren. Es gehe jetzt um die Geschäftsgrundlage im Service für Kfz-Meisterbetriebe.

Hessen ist ein E-Musterschüler
Vorbildlich: Hessen entwickele sich in der Elektromobilität zu einem E-Musterschüler mit überdurchschnittlich hohen Steigerungen, teilte Karpinski mit. 80.345 (Vorjahr: 55.497) E-Fahrzeuge im Bestand seien ein Plus von rund 45 Prozent. Für die insgesamt 161.785 (Vorjahr: 112.978) E-Fahrzeuge – Pkw, Lkw und Motorräder – gebe es 6.231 (Vorjahr: 2.677) öffentlich zugängliche Ladepunkte. Dies sei eine Steigerung um 132,8 Prozent. Hessen benötige aber, um das Ziel von 1 Million Ladepunkte bundesweit im Jahr 2030 bundesweit zu erreichen, einen Anteil von 80.000 Ladepunkten.


Entspannung im Ausbildungsmarkt
Entspannung zeige sich auf dem Ausbildungsmarkt in Hessen. Die Bilanz 2022 biete zukunftweisende Zahlen, denn sowohl bei den Kraftfahrzeugmechatronikern als auch bei den Automobilkaufleuten stünden Pluszahlen: 1.461 (Vorjahr: 1.395) neue Ausbildungsverhältnisse für den Kraftfahrzeugmechatroniker und 387 (Vorjahr: 354) für Automobilkauffrau und Automobilkaufmann. Karpinski sagte, die heutige Ausbildung berge das Fachkräfte-Potenzial von morgen und müsse auf ein neues Level gehoben werden, um die derzeit stattfindende Transformation in der Automobilbranche bewältigen zu können.


Neue Vertriebsformen erzeugen Unruhe
Die angekündigten Neuregelungen der Vertriebsformen erzeugten Unruhe in einer Marktphase, die alle Kräfte fordere. Karpinski: „Wir fahren auch in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres nicht in der Normalspur“. Belastend seien die steigenden Listenpreise, die unverändert langen Lieferzeiten sowie massiv gestiegene Energiekosten. Dies löse eine Kaufzurückhaltung aus, die sich zum Jahresstart auch in einer hohen zweistelligen Minusquote für den Auftragseingang gezeigt habe. Noch lebe der Automobilhandel von einem hohen Auftragsbestand.


Vorsichtige Prognosen
Der Verband erwarte für das laufende Autojahr bei den Pkw-Neuzulassungen ein kleines Plus um „etwa vier Prozent auf 280.000“ Erstzulassungen. Im Gebrauchtwagenmarkt müsse wieder mehr Ware ankommen. Zum Jahresstart sei dies mit Zuwächsen um drei Prozent gelungen. 455.000 Pkw-Besitzumschreibungen „sind eine ambitionierte Prognose“. Es gebe im Markt unterschiedliche Auffassungen, ob die Talsohle durchschritten werden könne. Dies seien „vorsichtige Prognosen mit einem Schuss Zuversicht“.
Die Branche schaue gespannt auf das Frühjahrsgeschäft, das erste Hinweise darauf geben könnte, ob die Normalspur für die Fahrt im Autojahr 2023 in Sichtweite komme. Umfragen in der Branche zeigten „höchst gegenläufige Erwartungen“. Auch das „emotionale Umfeld der individuellen Mobilität spiele eine große Rolle“. Der Verkehrsraum dürfe nicht einseitig zu Lasten des Automobils eingeschränkt werden, sagte Karpinski abschließend mit der Ergänzung, „dass es unverändert eine Partnerschaft der Verkehrsträger und -systeme geben muss“. Wörtlich sagte er: „Ein Anteil von nahezu 75 Prozent für den motorisierten Individualverkehr belegt, dass das Automobil unangefochten die Nummer 1 im Ranking der Mobilitätswünsche ist!“

 

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Das Autojahr 2022 / Tabelle zum Download